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Als die Nachkriegszeit zu Ende ging

Als Pfarrerehepaar in Paris

Fast unsere ganze Zeit – elf Jahre, in denen ich Pfarrer der Deutschen Evangelischen Christuskirche war – stand unter dem Zeichen des 100jährigen Jubiläums der Kirche. Als wir im Herbst 1984 nach Paris kamen, hatte der langjährige Kirchenvorsteher Jean Krentz schon Vorüberlegungen angestellt und erste Dokumente gesammelt. Sehr früh war klar, dass aus diesem Anlass auch an die Jahrhunderte alte Geschichte des deutschsprachigen Luthertums in Paris erinnert werden sollte,[1] sowie an all die deutschen Gemeinden in ganz Frankreich, die mit Ausbruch des 1. Weltkrieges gezwungenermaßen aufgelöst wurden. Die Vorgeschichte – der Krieg von 1870/71 – und erst recht die Geschichte der Christuskirche standen im Schatten der großen Politik – und das hieß: der militärischen Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und Frankreich. In den 80er Jahren waren die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg noch sehr lebendig.[2] Es gab zahlreiche Zeugen aus ganz unterschiedlichen Lagern. Ein Kronzeuge für uns war Hans-Helmut Peters, in den 30er Jahren Vikar und während des Krieges Pfarrer in der Christuskirche. Wenige Monate vor seinem Tod haben wir ihn ausführlich befragen können, und er hat die schriftliche Fassung dieses Gespräches autorisiert.

Wesentliche Hilfe erfuhren wir vom Deutschen Historischen Institut, insbesondere in der Person des wissenschaftlichen Direktors Dr. Hartmut Atsma, der später auch zum Kirchenvorstand gehörte. Mit Dr. Christiane Tichy hatten wir eine Historikerin gefunden, die sich ehrenamtlich zur Verfügung stellte und sehr intensiv mitarbeitete. Was sie an Recherchen betrieben hat, wie viele Zeitzeugen sie ausfindig gemacht und befragt hat – das war unbezahlbar. Ein großer Teil des Jubiläumsbuches stammt von ihr.[3] Der 440 Seiten starke Band, ein Gemeinschaftswerk, wurde noch rechtzeitig zum Jubiläum am 11. Dezember 1994 fertig.[4] Zum Begleitprogramm gehörten ein paar Veranstaltungen, wie die Busrundfahrt durch Paris, auf der alle Standorte besucht wurden, an denen einmal Kirchen, Gemeindehäuser, Heime und Schulen von deutschsprachigen Gemeinden gestanden hatten. Und es gab eine Vortragsreihe, auf der u. a. Pastor Dietrich v. Bodelschwingh über seinen Urgroßvater Friedrich sprach, der zahlreiche Fußspuren in Paris hinterlassen hat, am bekanntesten die ehemalige Hügelkirche in La Villette. Am 2. Advent war der Festgottesdient, an dem alle Pfarrer der Gemeinde seit dem 2. Weltkrieg teilnahmen. Die Predigt hielt der Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen in Genf Dr. Konrad Raiser. Schon damals war die Gemeinde notorisch klamm, wenn es um ihre Finanzen ging. Trotzdem gelang es uns, zu diesem Anlass insbesondere das Gemeindehaus herauszuputzen – nicht zuletzt dank einer Spende von 100.000 DM aus der Gemeinde. So konnte die Außenfassade zur Straße hin gereinigt werden, das Untergeschoss und der Gemeindesaal wurden gründlich renoviert.

Weitere wichtige Ereignisse fielen in unsere Zeit. Im November 1988 gedachten wir in einer Reihe von Veranstaltungen der Reichskristallnacht, wie es damals noch hieß. 50 Jahre vorher war der Legationsrat vom Rath in der Pariser Botschaft von einem jungen verzweifelten Juden ermordet worden – für die Nazis der willkommene Anlass zu dem Pogrom von 1938. Die Trauerfeier für den deutschen Diplomaten hatte in der Christuskirche stattgefunden. Uns gelang es, einige prominente jüdische Teilnehmer der Resistance zu einem Podiumsgespräch zu gewinnen. Im Festgottesdienst sang der Chor Mizmor aus der großen Synagoge. Nach diesen Begegnungen war das Verhältnis zu den zahlreichen Juden im Stadtviertel deutlich entspannter.

Der ganze schreckliche 2. Weltkrieg jährte sich in unserer Zeit zum 50. Mal. Immer wieder gab es Anlässe, deren wir meistens mit Gottesdiensten gedachten. Einen hohen öffentlichen Stellenwert hatte die Erinnerung an die Landung der Alliierten im Juni 1944 in der Normandie. Bundeskanzler Kohl war zu den offiziellen Feierlichkeiten nicht eingeladen worden und schmollte. Er verbot dem Botschafter und anderen deutschen Repräsentanten die Teilnahme an den Gedenkfeiern. Das war der Grund, warum ich angesprochen wurde und zwar von Seiten der französischen Protestanten. Ich predigte in einer Kirche in Caen und am selben Tag auch im Zuge der „Ökumenischen Vigil für Frieden und Freiheit“ in der Kathedrale von Bayeux – dort an der Seite von Karl Lehmann, dem Vorsitzenden der Katholischen Bischofskonferenz.[5] Die Alliierten waren durch hohe Repräsentanten vertreten. Die Gemeinde bekam dieses Jubiläum auf andere Weise zu spüren. Hunderte von Chören aus den USA hatten sich mitten im Sommer zu Konzerten in Paris angekündigt. Es herrschte Raumnot. So erlebten wir bis zu drei Konzerte pro Woche von Amerikanern, die sich monatelang auf dieses Highlight vorbereitet hatten und nun ausgerechnet in der deutschen Gemeinde auftraten. Was schlimmer war, es fehlte an Publikum – auf einen solchen musikalischen Ansturm war in dieser Jahreszeit kein Mensch gefasst.

Schließlich fiel die deutsche Wiedervereinigung mitten in unsere Zeit. Paris war ein Sehnsuchtsort. Viele Menschen aus Osteuropa kamen auf den von uns sog. Mördertouren an die Seine: Eine Nacht mit dem Bus hin, einen Tag Aufenthalt, die nächste Nacht schon wieder auf dem Heimweg zurück. Bekannte Gesichter aus der DDR-Kirche kamen als Gäste ins Haus, z. B. Bischof Gottfried Forck aus Berlin und Pfarrer Christian Führer aus Leipzig. Im Kreis der Au-pairs tauchten gestandene Männer auf, auch Organisten und Pfarrer, die für sechs oder zwölf Monate einen Kulissentausch vornahmen. Auch unter den Mitarbeitern im Haus, im Büro und bei den Küstern, hörte man nun unverkennbar sächsische oder berlinerische Laute. Höhepunkt war ein festlicher Gottesdienst am 3. Oktober 1990 zu dem wir alles, was in Paris Rang und Namen hatte, einluden. Kardinal Lustiger ließ sich von Rom aus per Telegramm entschuldigen. Die Predigt hielt der letzte Botschafter der DDR in Frankreich, Stephan Steinlein, seines Zeichens Theologe. Wir freuten uns mit ihm, als er später in den diplomatischen Dienst der Bundesrepublik übernommen wurde.

Soweit in Kürze zu dem Außerordentlichen in diesen Jahren. Daneben ging der normale Betrieb in der Gemeinde weiter, auch mit den unvermeidlichen Veränderungen. Als wir nach Paris kamen, gab es ein strukturelles Problem mit den beiden Pfarrstellen. Die eine war zentral in der Stadt angesiedelt mit Kirche, Gemeindehaus, Verwaltung etc., aber in der unmittelbaren Nähe wohnten kaum Gemeindeglieder. Die andere lag 20 km außerhalb in der westlichen Banlieue, ohne jeden Apparat, dafür in Reichweite von vielen evangelischen Landsleuten, die sich vorübergehend in Frankreich aufhielten, in der Regel drei bis sechs Jahre. Die Zusammenarbeit funktionierte nur schlecht. Außerdem wollte die EKD bei den Stellen einsparen. 1986 ging Pfarrer Dr. Georg Eichholz zurück in die Rheinische Kirche, und die Stelle im Westen wurde frei. Eine Gemeindeberatung aus Deutschland wurde eingeschaltet. Früher war einmal überlegt worden, die Kirche in Paris aufzugeben. Jetzt ging es umgekehrt um die Stelle im Westen. Und es gab ja eine ausgebildete Pfarrerin am Ort, Almuth von der Recke, die zunächst wegen unserer kleinen Tochter beurlaubt war. Die Gemeinde kannte sie bereits von der Kanzel her, die Wohnungsfrage stellte sich nicht. So beschloss der Kirchenvorstand 1987, die verbleibende halbe Stelle auch in der rue Blanche anzusiedeln. Dass die Pariser Gemeinde damit faktisch Ehepaaren vorbehalten blieb, war damals kaum im Blick.

Die Neuordnung hatte Folgen für die Gemeindearbeit. Zunächst gab es neben dem monatlichen Gottesdienst in der reformierten Kirche in La Celle St. Cloud dort noch weitere Angebote. Aber das Echo war schwach. Das Gemeindeleben konzentrierte sich mehr und mehr auf die Christuskirche. Mit wöchentlichen Terminen für alle, die im Einzugsbereich der Metro lebten – z.B. das blühende Treffen der Au-pairs und der Kreis der jungen Erwachsenen. Andere Veranstaltungen hatten einen monatlichen Rhythmus und waren auch für die gedacht, die weiter außerhalb wohnten. Dazu gehörte der Konfirmandenunterricht, der nun den ganzen Samstagnachmittag beanspruchte, oder der Mutter-Kind-Treff sowie der Literaturkreis. Die Älteren, die sich die Junggebliebenen nannten, trafen sich wie je alle 14 Tage, ähnlich das Gespräch über den Glauben. Aber hier ist nicht der Platz, das damalige Gemeindeleben im Einzelnen in Erinnerung zu rufen.

Einschneidend waren auch die Veränderungen im Küsterdienst. Als wir kamen, gab es noch einen jüngeren Küster mit Familie, der in der 3. Etage wohnte. Wie ein Rausschmeißer stand er vor dem Gottesdienst im schwarzem Anzug und Zigarre im Mund und empfing die Besucher – je nach Laune mit leutseligen Sprüchen oder grimmigen Lächeln. Seine Arbeits- und Wohnverhältnisse waren am Schluss weder ihm noch uns zuzumuten. Wir haben es dann mit dem Model Wohnung gegen Arbeit für jeweils sechs bis zwölf Monate versucht, und das ging erstaunlich gut. Die jungen Leute – Studenten, Praktikanten und Weltenbummler – brachten frischen Wind ins Haus. Es gab immer anregende Gespräche. Der Nachteil war, dass die Gesamtverantwortung bei uns lag. Bis sie die Besonderheiten im Gottesdienst und die technische Ausstattung des Hauses wirklich erfasst hatten, war ihre Zeit vorüber – ganz abgesehen davon, dass für sie der jährliche Gemeindeausflug, der Basar und die Weihnachtsbräuche in jedem Fall Neuland waren. Bei den Stellen für die Verwaltung und die Kirchenmusik blieb es beim Alten. Schon damals hieß die Organistin Helga Schauerte. Fachkundig, kooperativ und diskret wie sie ist, trug sie entscheidend bei zu der einladenden Atmosphäre der Gemeinde.

Wilhelm von der Recke, Bremen
Pfarrer an der deutschen Kirche von 1984 – 1995.

 

 


[1] Bis zum 2. Weltkrieg war die Gemeinde lutherisch. Erst in der Nachkriegsverfassung heißt sie offiziell Deutsche Evangelische Kirche in Frankreich.

[2] Erst im Frühjahr 1984, ein halbes Jahr bevor wir nach Paris kamen, hat der französische Staat die Gebäude der Gemeinde in der rue Blanche offiziell rückübereignet, ohne viel Aufhebens davon zu machen.

[3] Sie ist später mit dem Thema „Deutsche evangelische Auslandsgemeinden in Frankreich 1918-1944“ in Freiburg promoviert worden.

[4] Fluctuat nec mergitur. Deutsche Evangelische Christuskirche Paris 1894 – 1994. Beiträge zur Geschichte der lutherischen Gemeinden deutscher Sprache in Paris und in Frankreich, hg. von Wilhelm von der Recke, Sigmaringen 1994

[5] Natürlich fühlte ich mich von dieser Gesellschaft geschmeichelt. Allerdings hatte ich im Vorfeld die EKD um einen hochrangigen Vertreter zu diesem Anlass gebeten – vergeblich.

Datum der letzten Änderung
Letzte Änderung 2019-10-30, 10:57:59 (GMT)
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